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Neue deutsche Teilung: Die einen schauen auf die Preise und kriegen einen Wutanfall, die anderen haben noch gar nichts bemerkt In der Bundesrepublik hatten sich die Menschen an billige Nahrungsmittel gewöhnt. Dann kam der Krieg. Eine Reise an Orte, wo die galoppierende Inflation real wird - vom Discounter im sozialen Brennpunkt bis zur berühmtesten Feinkostabteilung des Landes.

Beatrice Achterberg, Berlin 30.07.2022, 05.30 Uhr

Illustration, Christian Kleeb

Im Penny-Markt im Berliner Ortsteil Neukölln hat sich die Inflation nach Beginn des Krieges in der Ukraine schnell bemerkbar gemacht. "Ein Stammkunde ist ausgerastet, weil die Bolognese-Sauce 30 Cent teurer wurde", erzählt der stellvertretende Filialleiter, ein Mann mit wuscheligen Haaren und vielen Ohringen. Statt 1 Euro 39 kostet die Rindfleischsauce im Tetrapack nun 1 Euro 69.

Nur ein paar Münzen, könnte man meinen. Aber wenn alles andere auch teurer wird, können dreißig Cent bei Menschen mit wenig Geld schon einen Wutausbruch auslösen - zumal in einem Land wie Deutschland, wo Lebensmittel und Getränke immer vergleichsweise billig waren.

"Wir können ja nichts dafür", sagt der stellvertretende Filialleiter zermürbt. Der Umsatz des Discounters sei deutlich eingebrochen.

Ganz Deutschland spricht über die steigenden Preise, und die Regierung schnürt ein "Entlastungspaket" nach dem anderen. Aber wie ist die Lage dort, wo die Menschen tagein, tagaus mit der Inflation konfrontiert werden? Wir waren in der deutschen Hauptstadt unterwegs und haben mit Verkäufern und Kunden gesprochen. Die einen bitten darum, selbst Cent-Beträge anschreiben zu lassen, die anderen geben sich entspannt.

Unter den Kunden der Penny-Filiale im so hippen wie sozial brenzligen Ortsteil Neukölln sind viele Hartz-4-Bezieher und Drogensüchtige. Wird mehr geklaut? Der stellvertretende Marktleiter nickt: "Kaffee und Kopfwaschmittel." Solche Produkte verkauften Junkies an die Spätis in der Umgebung, die das Shampoo dann für fünf Euro ins Regal stellen.

Wenn 50 Cent ein Problem sind

Von den Shisha-Bars und den Handy-Werkstätten mit den bunten Leuchtreklamen in Neukölln geht es ins westlich gelegene Steglitz. Fast dörflich wirkt Berlin hier, grün und sauber.

"50 Cent kriege ich noch." "Nächste Woche", bittet die Frau in gebrochenem Deutsch und faltet beim Sprechen die Hände. "Na gut, ich trage es ein", sagt Christine Hoppmann freundlich, aber bestimmt.

Jeder, der sich an der Ausgabestelle der Tafel in Steglitz anstellt, muss sich bei ihr melden. Hoppmann nähert sich dem 70. Lebensjahr, was schwer zu glauben ist, wenn man sieht, wie die schlanke Dame vom Stuhl aufspringt, um zu schauen, ob noch Katzenfutter übrig ist. Für Tierfutter gibt es eigentlich eine eigene Tafel, aber Hoppmann hat etwas Lachs zur Seite gelegt, für bedürftige Katzenbesitzer.

Eine Frau mit müden Augen legt wortlos vier ukrainische Pässe auf den Tisch. "Willkommen in der deutschen Bürokratie", sagt Hoppmann und sucht, die Brille ins kurze Haar geschoben, nach dem richtigen Nachnamen.

Am Tisch der Tafel-Chefin wird gewitzelt und gefeilscht. Die Beträge, um die es geht, sind gering, mal ein paar Euro, mal Cent-Beträge. An diesem Werktag ist die Schlange von Berlinern, die für Essen anstehen, etwa 30 Meter lang und reicht fast bis zur Strasse. Es sind Rentner mit Trolleys, Mütter mit Kopftuch, Männer mit Aldi-Tüten, ukrainische Geflüchtete. Vor allem sind es mehr Menschen als früher. Und das Angebot ist kleiner geworden.

Mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs Ende Februar sind die Lebensmittelpreise nach oben geschnellt. Im Juli lag der Anstieg laut dem Statistischen Bundesamt bei fast 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Die Folge: Die Deutschen kaufen weniger ein, also bestellen die Supermärkte weniger Ware - und haben am Ende weniger übrig, was die Helfer der Tafeln in ihren grünen Kisten verteilen können.

Ohne Nebenjob reicht die Rente nicht

Eine Rentnerin probiert in Steglitz eine Männer-Sportjacke vom Wühltisch an. Seit vier Wochen komme sie zu der Tafel, erzählt die 69-Jährige. Wegen der Corona-bedingten Schliessungen habe sie ihren Nebenjob im Restaurant verloren, seither reiche die Rente nicht mehr aus: "Ich schäme mich nicht, herzukommen", sagt sie. Sie zahle hier 1 Euro 50 statt 15 Euro im Supermarkt. In ihrem Einkaufstrolley liegen Obst, Aufbackbrötchen und abgepackter Käse.

Milchprodukte sind in Deutschland besonders stark im Preis gestiegen. Ein Stück Butter etwa hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 75 Prozent verteuert. Fleisch, Brot, Öl und Kaffee sind ebenfalls deutlich teurer geworden. Und Handelsexperten rechnen angesichts der Energiekrise mit weiteren Preissprüngen.

Milchprodukte wie Butter haben sich stark verteuert

So haben sich die Preise im Vergleich zu 2015¹ entwickelt, in Prozent
¹ Die Grafik zeigt, um wie viel Prozent die Preise im jeweiligen Monat höher oder niedriger liegen als im Jahresdurchschnitt 2015.
Quelle: Destatis
NZZ / sih.

Von der Tafel in Steglitz geht es zu einem Wochenmarkt im südwestlich von Berlin gelegenen Potsdam. Ältere Pärchen und Familien flanieren umher, und an den Ständen riecht es mal nach Blumen, mal nach Fisch. "Manche wechseln auf den Seelachs für 2 Euro 99, weil 100 Gramm Rotbarsch inzwischen über 3 Euro 69 kosten", sagt ein junger Mann hinter einer Theke, unter der rosafarbene Fischfilets glänzen.

"Unsere Kunden haben alle Geld"

Von einer Krise kann auf dem Potsdamer Wochenmarkt aber noch keine Rede sein. Der Preis für Serrano-Schinken sei zuletzt von 29 Euro 90 auf 32 Euro 90 das Kilo gestiegen, sagt ein gut gelaunter Wurstverkäufer. Und er verkaufe sich wie eh und je. Auch bei den Belgischen Hefewaffeln, inzwischen 2 Euro 80 das Stück, sei die Nachfrage stabil, sagt ein Standbetreiber. Er verkaufe eh nur in "einkommensstarken Gebieten".

Ein paar Schritte weiter im Feinkostgeschäft "Essclusiv" verkauft der Inhaber Arko Kucharzak eine Flasche Rotwein an zwei Damen, die sich zuvor in aller Ruhe umgesehen haben. "30 Euro glatt?", fragt die Kundin, während sie ihm zwei Scheine reicht. Er habe nur glatte Preise, antwortet Kucharzak: "Bei 29 Euro 95 sagen Sie eh: ‹Behalten Sie die fünf Cent.›" Schadet die Inflation dem Geschäft? Kurcharzak verneint: "Unsere Kunden haben alle Geld."

Das gilt wohl auch für Menschen, die als Kunden und nicht nur als Schaulustige ins weltbekannte Kaufhaus des Westens, kurz KaDeWe, im Berliner Ortsteil Schöneberg kommen. Über den Modeetagen befindet sich die Feinkostabteilung des Hauses. Und siehe da: Anders als im beschaulichen Potsdam macht sich der Lauf der Welt hier durchaus bemerkbar. Seit Beginn des Krieges fehle die russische Kundschaft, verrät ein Verkäufer. Und das wirke sich vor allem auf die Umsätze bei Champagner und Kaviar aus.

Wo Angela Merkel ihren Heilbutt kauft

Ein diffuser maritimer Geruch liegt über den Theken, in denen Fisch und Meeresfrüchte auf Eis ausliegen. Hier liess sich auch Altbundeskanzlerin Angela Merkel schon ihren Heilbutt, derzeit 100 Gramm für 10 Euro 95, einpacken.

An der Austernbar werden Eiswürfel vom Personal in einen Weinkühler geschüttet, einiges geht daneben und klatscht auf den Steinboden. Die Kellner flitzen geschickt über den nassen Boden und schenken im Akkord Schaumwein nach. "Das dauert Jahre, bis die Inflation hier ankommt", sagt einer von ihnen.

Bei der arbeitenden Mittelschicht geht es schneller. Vor einem Bio-Laden, wieder in Potsdam, steht ein schwarzer SUV. Das Paar, das gerade einen kleinen Einkauf in den Kofferraum räumt, geht nach eigenen Angaben mittlerweile oft zum Discounter. "Wir haben vier Teenager", sagt die Mutter der Heranwachsenden, von Beruf Grafikerin. "Die fressen einem die Haare vom Kopf." Bei Brot und Kaffee machten sie und ihr Mann, der im Finanzwesen arbeitet, allerdings noch keine qualitativen Abstriche. Der Preisanstieg sei "noch verkraftbar".


Quelle: NZZ


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 16.01.2023 - 16:54